Aufzeichnung von Josef Zeipelt
Freunden des Adlergebirges ist nicht unbekannt, dass sich
die meisten deutschen Gemeinden, mit Gießhübel im
Nordwesten beginnend, bis Rokitnitz größtenteils am
Südhang des Gebirgskammes wie eine dünne Perlenkette dahinzogen, im Norden
durch den zum Teil unwegsamen Gebirgswald und die Reichsgrenze von den
schlesischen Stammesbrüdern getrennt, im Süden gegen Innerböhmen offen und
damit dem begehrlichen Blick und Ansturm der Tschechen völlig schutzlos
preisgegeben waren. Besonders nach dem Verfall der österreichisch-ungarischen
Monarchie waren die armen Gebirgler im Abwehrkampf gegen das vordringende
Tschechentum fast auf sich allein gestellt. In diesem ungleichen Kampf winkte
meist nur dann ein bescheidener Erfolg, wenn man mit größtem Opfersinn dem
fanatischen, kapitalkräftigen Gegner entgegentrat und ihn mit seinen eigenen
Waffen wie List, Zähigkeit und Verschwiegenheit bekämpfte.
Zu den Orten, gegen die sich der Ansturm der Eroberer in
verstärktem Maße richtete, gehörte auch die Gemeinde Sattel.
Lebten die Deutschen vor dem 1. Weltkrieg mit der
verschwindend kleinen tschechischen Minderheit, die nirgends geschlossen in
Erscheinung trat, friedlich zusammen, so änderte sich das nach der Gründung der
tschechischen Republik mit einem Schlage. Bei einem Stande von 120 Schülern
wurde von der deutschen Schule die dritte Klasse gesperrt, dagegen eine
tschechische Minderheitsschule mit 8 Kindern eröffnet, wovon allerdings 4
deutsch waren. Ein tschechisches Kind und ein Kind aus einer gemischten Ehe
wohnten im Orte. Die anderen 2 tschechischen Kinder hätten es zu ihrer
Mutterschule in Sneschnei näher gehabt als nach
Sattel. Die Bodenreform drängte den Einfluss des Patronatsherrn, des Fürsten Colloredo-Mansfeld, stark zurück. Das Forstpersonal und die
Arbeitskräfte auf der herrschaftlichen Säge wurden nun durch Tschechen ergänzt.
Eine neugegründete Narodni Jednota
sagte bald allen Deutschen den schärfsten Kampf an. In Schierlichhäuser
wurde am Kamme des Gebirges, weithin sichtbar, gleichsam als Zwingburg, die Masarykbaude errichtet.
Da besonders in den kommenden Jahren die Deutschen treu zu
ihrer Schule standen, suchten die Tschechen nach neuen Wegen, ihre Minderheit
in der Schule zu stärken. Man bemühte sich, den vor Jahrzehnten von Sattel nach
Sneschnei verlegten Finanzwach-Posten wieder nach
Sattel zu bringen und damit einige tschechische Beamtenfamilien mit ihren
Kindern hier anzusiedeln.
Das Vorhaben nahm greifbare Formen an, als das mitten im
Ort gelegene hübsche Posthäusel zur Versteigerung gelangen sollte. Der letzte
Eigentümer, ein Enkel des Erbauers, der in Prag lebte, hatte in kurzer Zeit den
Besitz weit über den Wert hinaus mit Hypotheken belastet. Die Jednota fand für ihre Pläne in der Finanzdirektion Königgrätz ein offenes Ohr, und so geschah es, dass der
tschechische Posten kommen konnte und die Finanzwache in Sneschnei
sich bereits einige Monate vor dem Versteigerungstermin erdreistete, den
Deutschen die Mietverträge zu kündigen. Dieses herausfordernde Benehmen
versetzte die Betroffenen in starke Unruhe, die übrigen Dorfbewohner in
berechtigte Empörung. Die geheime Spannung zwischen den Grenzbewohnern und den
Grünröcken wurde durch dieses Verhalten und durch das arrogante Auftreten der
jüngeren Finanzer, meist Legionäre, noch wesentlich verstärkt. Jeder Gebirgler
sympathisierte mit den Männern, die nachts über die grüne Grenze wechselten und
freute sich, wenn es diesen wieder einmal gelungen war, den Häschern ein
Schnippchen zu schlagen. Mit den einstigen österreichischen oder deutschen
Zöllnern, die manch ein Auge, mitunter beide Augen zugedrückt hatten, hatte man
sich eigentlich ganz gut verstanden, mit ihnen am Biertisch gesessen und sie
nicht selten gefoppt.
Doch von den neuen Tschechisierungsaposteln trennte die
biederen Dörfler eine tiefe Kluft. So war es selbstverständlich, dass alle
Deutschen den Wunsch hatten, wir Einheimischen mögen das Haus ersteigern. Die
Ortsgruppe und der Bezirksverband d. B.d.D. bemühten
sich um deutsche Käufer, was auch gelang. Doch es bestand kaum Hoffnung, dass
sie, bzw. einer von ihnen, den Kampf mit der Finanzbehörde erfolgreich bestehen
würden. Waren doch die eigenen Mittel gering und die örtliche Raiffeisenkasse
konnte, durch die Satzung gebunden, auch nur unzureichende Darlehen in Aussicht
stellen. Je näher der Tag der Versteigerung heranrückte, desto hitziger wurden
die Debatten in den Gasthäusern, desto höher stieg die offen zur Schau
getragene Siegeszuversicht der Tschechen, desto tiefer sank das Hoffnungsbarometer
der Deutschen. Nur drei Männer hielten sich aus den Debatten heraus und
schwiegen.
Es war ein heißer Sommermorgen, als der Schuldiener,
gleichzeitig Gemeinde- und Kassabote, zu den in den
Gemeinden Gießhübel, Pollom,
Sattel, Plaßnitz und Schedewie
wohnenden Mitgliedern des Vorstandes und des Aufsichtsrates der Raiffeisenkasse
Sattel eilte und ihnen eine verbindliche, wie dringende Einladung für den Abend
überbrachte. Als einziger Punkt der Sitzung war angeführt:
Stellungnahme und Beschluss zu einem vorliegenden Antrag
zu Punkt 5 der Jahreshauptversammlung vom ….
Mancher der Geladenen unterschrieb wohl etwas mürrisch die
Einladung, stand ihm doch ein schwerer und langer Arbeitstag bevor, und keiner
verspürte die geringste Sehnsucht nach einem längeren Abendspaziergang. Allein
Pflichteifer und Verantwortungsbewusstsein, nicht zuletzt ein gewisses Maß von
Neugierde, siegten. Wusste doch keiner mehr, was unter Punkt 5 seinerzeit
beschlossen worden war. Auf diese Vergesslichkeit seiner lieben Mitmenschen und
aber vor allem auf deren Gesinnungstreue und Verschwiegenheit hatte der
Vorsitzende des Aufsichtsrates als Einberufer seinen
Plan aufgebaut.
So trafen die Männer einzeln mit ziemlicher Verspätung in
der Schule Sattel ein, als der helle Tag schon längst einer tiefen Dämmerung
gewichen war. Er selber, der Obmann und dessen Stellvertreter hatten schon
etwas früher, durch die Hintertür kommend, das Klassenzimmer betreten, in dem
regelmäßig die Kassa-Sitzungen stattfanden, um
möglichst kein Aufsehen zu erregen. Sie wurden auch bald mit den Fragen nach
dem Zweck der Sitzung bestürmt. Man vertröstete sie auf den baldigen Beginn der
Sitzung. Als der letzte Nachzügler eingetroffen war, verpflichtete der
Vorsitzende jeden Anwesenden durch Handschlag, über alles, was er heute in der
Sitzung höre und was beschlossen werde, bis zum nächsten Tage 12 Uhr mittags
gegen jedermann strengstes Stillschweigen zu wahren. Dieses ungewöhnliche
Vorgehen ließ die Spannung auf das Höchste ansteigen.
Nun eröffnete er wie üblich die Sitzung und verlas den
fraglichen Punkt 5 des Protokolls der letzten Jahreshauptversammlung, der
sinngemäß wiedergegeben etwa lautete:
„Sollte künftig ein Besitz, den die Kassa belehnt hat, zur
Versteigerung gelangen und dabei die Interessen der Kassa wie der Bürger
gefährdet erscheinen, werden Vorstand und Aufsichtsrat ermächtigt, ohne
Einberufung einer Vollversammlung den Besitz notfalls für die Kassa zu
ersteigern.“
Hierzu erklärte er. Schon längere Zeit vor der
Hauptversammlung habe er vorausschauend unter Bedachtnahme auf eine
wahrscheinliche Versteigerung des Posthäusels den Obmann und dessen
Stellvertreter ins Vertrauen gezogen und den Vorschlag gemacht, die Kassa
sollte das Haus erwerben und um damit die Pläne der Tschechen zu durchkreuzen.
Um die Tschechen in Sicherheit zu wiegen, sei von ihm unter Hinweis auf einen
Fall i. G. im Vorstand und Aufsichtsrat der obige Antrag zur Beratung gestellt
und nach Beschlussfassung der Vollversammlung vorgebracht worden. In bewegten
Worten appellierte er an die Anwesenden, als Amtsverwalter der Kassa, ihren
Teil zur Deutscherhaltung der Heimat beizutragen, den Kauf des Hauses zu
beschließen und den Obmann samt seinem Stellvertreter zu der morgen um 10 Uhr
stattfindenden Versteigerung zu entsenden.
In dem Klassenzimmer war es indessen ganz finster geworden
und man konnte das Mienenspiel der einzelnen Männer nicht erkennen, noch deren
Gedanken erraten. Doch schon gegen Ende seiner Worte ging ein hörbares Aufatmen
durch den Raum, und als er geendet, brach eine ehrliche Begeisterung durch, wie
man sie sonst den so schweigsamen, nüchternen und wortkargen Männern nicht
zugetraut hätte. Nach kurzer Wechselrede wurde, um gegen Überraschungen
gesichert zu sein, das Höchstgebot mit 70.000,-- Kc festgesetzt, das weit den Schätzwert
überstieg, und beschlossen, es solle bei der Versteigerung kein deutscher
Bewerber überboten werden.
Nun galt es noch eine kleine Schwierigkeit zu überwinden.
Auf Grund verschiedener Manipulationen war der deutsche Bevölkerungsanteil im
Gerichtsbezirk Neustadt a. d. M. bei der letzten Volkszählung knapp unter 20 %
gedrückt worden und damit hatten die Deutschen den Anspruch auf freien Gebrauch
ihrer Muttersprache bei den Ämtern verloren; und so war es notwendig, neben der
deutschen Vollmacht den beiden Kassavertretern eine
zweite in tschechischer Sprache mitzugeben.
Kurz entschlossen wurde der schon schlafende Oberlehrer
geweckt, der in seiner Jugend eine tschechische Mittelschule besucht hatte,
ebenfalls zu strengstem Stillschweigen verpflichtet und gebeten, den
tschechischen Text der Vollmacht zu verfassen. Spontan entschloss er sich, mit
nach Neustadt zu fahren und sich eigenmächtig zu beurlauben; so begeistert war
auch er. Dem Vorsitzenden des Aufsichtsrates versprach er, ihn drahtlich vom Ausgang der Versteigerung zu verständigen.
Ein Vertreter aus Pollom übernahm es, einen dortigen
Bauern für den nächsten Tag um 6 Uhr mit seiner Kutsche bei der Wohnung des
Obmannes stellig zu machen, der angeblich verreisen
müsse. Um eine Panne auszuschließen, hat er dann selber am Morgen den Bauern
geweckt, ihm beim Füttern und Einspannen geholfen und ihn zur Eile angetrieben.
Es ging schon stark gegen Mitternacht, als die Sitzung
beendet war.
Still und einzeln wie sie gekommen waren, verließen die
Männer, diesmal aber
durch die Hintertür, das Schulhaus und traten in die
sternenklare Sommernacht
hinaus. Der warme Händedruck, mit dem sie sich vom
Vorsitzenden des Aufsichtsrates verabschiedeten, sagte ihm mehr als Worte, dass
er den rechten Weg gegangen war, aber auch, dass er auf die Verschwiegenheit
aller bauen könne.
Am nächsten Morgen pünktlich um 6 Uhr rollte das
Bauernwägelchen mit dem Obmann und dem Oberlehrer, zu denen sich später noch
der Obmannstellvertreter gesellte, der Stadt zu. Sie kamen eigentlich recht
früh in Neustadt an. Der Obmannstellvertreter hatte noch genügend Zeit, sein
fertiges „Stück“ beim Wollausgeber abzuliefern und neue Baumwolle zu
übernehmen. Der Oberlehrer suchte den Arzt auf, um ein Alibi nachweisen zu
können, und der Obmann schritt dem Gerichtsgebäude zu, um die Vollmacht
abzugeben und das Vadium zu erlegen. Nach und nach
stellten sich die einzelnen Interessenten ein, so der Bevollmächtigte der
Finanzdirektion Königgrätz, aber auch der
Hauptgläubiger, ein Herr Zitterbarth – oder ähnlich -
Direktor einer kleinen nordböhmischen Bank, der sich seine Forderung noch knapp
vor Torschluss an ziemlich aussichtsloser Stelle hatte sicherstellen lassen.
Die erschienenen Gebirgler staunten nicht wenig, den Obmann hier zu treffen,
gaben sich jedoch zufrieden, als einer von ihnen die Meinung vertrat, als
Gemeindevorsteher müsse er anwesend sein, ihn habe die Neugierde hergelockt, da
er ohnehin zufällig in Neustadt zu tun habe.
Pünktlich um 10 Uhr begann die Versteigerung, die sich
anfangs recht schleppend dahinzog und zu einem leichten Geplänkel zwischen den
deutschen Interessenten und dem Finanzgewaltigen entwickelte, wobei wie
erwartet, ein Gebirgler nach dem anderen schachmatt gesetzt wurde. Als auch dem
letzten der Atem ausging und er aufgab, frohlockte bereits mit einem
siegesgewissen Lächeln der Vertreter der Finanzbehörde. Doch das Lächeln
erstarb auf seinen Lippen, als plötzlich der Vorsteher eingriff. Dies wirkte
wie eine Bombe. Die Gebirgler orakelten im Stillen, für welche seiner Töchter
er wohl das Haus erwerben wolle und wo ihr heimlicher Bräutigam sei. Noch mehr
staunten sie, dass der Mann heute so forsch ins Zeug ging, wo sie ihn doch
bisher als argen Kriecher angesehen hatten. Denn jetzt wurde der Zweikampf
lebhafter und rasch stieg das Ergebnis auf 50.000 Kc, das der Finanzer stellte.
Als unser Freund mit 50.100 antwortete, bat der Finanzbeamte um eine
halbstündige Unterbrechung, damit er von der Finanzbezirksdirektion Königgrätz neue Vollmachten einholen könne. Unter Berufung
auf die geltenden Bestimmungen lehnte der Richter dieses Ansinnen ab. So schien
die Schlacht gewonnen zu sein. Der Hauptgläubiger hielt sich bisher still im
Hintergrund und hätte bei dem bisherigen Angebot fast sein ganzes Guthaben
verloren. Um wenigstens einen Teil zu retten, begann er zögernd zu bieten, gab
aber bei 57.000 Kc das Bieten auf. Erst als der Zuschlag an die Kassa erfolgte,
wuchs das Staunen der Anwesenden aufs Höchste, löste aber auch die Spannung,
die die ganze Zeit die Menschen in ihren Bann gezogen hatte. Draußen wartete
schon ungeduldig der Oberlehrer, der, als ihm das Ergebnis mitgeteilt wurde,
freudestrahlend zum nächsten Postamt eilte und wie vereinbart, dem Vorsitzenden
des Aufsichtsrates drahtete: „Tante angekommen!“
Es war gut so, denn die Fama erzählt, dass die Siegesfeier
ziemlich ausgedehnt worden ist und die Sattler hätten noch lange auf eine
Nachricht warten müssen. Als der Vorsitzende in verständlicher, fast
fieberhafter Aufregung das Telegramm gelesen hatte, ersuchte er den Postboten,
bei seinem Rundgang durchs Dorf die Neuigkeit zu verbreiten. Bald nach einigen
Hausbesuchen war er dieser Notwendigkeit enthoben, denn mit Windeseile
verbreitete sich die frohe Kunde bis ins letzte Stübchen, bei der gesamten
deutschen Bevölkerung, aber auch in den deutschen Nachbardörfern Freude und
Genugtuung auslösend. Nur über dem Haupte eines Vorstandsmitgliedes soll sich
ein schweres Gewitter mit Sturm und Donnergrollen entladen haben, weil dessen
bessere Ehehälfte die Neuigkeit noch vor Ablauf des Schweigegebots von der
Nachbarin erfahren hatte. So erfuhr auch sehr zeitig die Wirtin von der Pollomer Krone, bei der der tschechische Lehrer und die
tschechischen Forstadjunkte beim Mittagstisch saßen,
das Ergebnis der Versteigerung. Wie so beiläufig fragte sie die Herren, ob sie
bereits wüssten, wie die Versteigerung ausgegangen sei. Mit dem Brustton der
Überzeugung und Überheblichkeit und einem herablassenden Lächeln meinten sie
einmütig, wer anders als die Finanzbezirksdirektion könne schon das Haus ersteigert
haben. Als sie jedoch auf das eben eingetroffene Telegramm hinwies, erblasste
der Lehrer und vor Aufregung fiel ihm der Suppenlöffel klirrend aus der Hand.
________________________________________
Der Gewährsmann für diesen Bericht nahm selbst an der Kassasitzung teil, bürgt für die Richtigkeit seiner
Angaben, und es ist ihm bei dem großen Unglück, das über unsere Heimat
hereingebrochen ist, doch eine kleine Befriedigung, dass es gelang, die
Tschechen zu überspielen und so wenigstens damals einen Einbruch in den
deutschen Besitz zu verhindern.
Josef Zeipelt, Sattel Hs-Nr. 61, geb. am 25.09.1899
gest. am 25.11.1992
=================================================================
Jednota: Eine Verbindung, die zum Ziel
hatte die deutschen Gebiete zu
tschechisieren, sie wurde vom Staat unterstützt.
Finanzer: Zollbeamte
Forstadjunkte:
Hilfsbeamte
B.d.D.: Bund der Deutschen
i. G. : Wahrscheinlich in Gießhübel
Vadium: Gegenstand, (z. B. Halm Stab),
der beim Abschluß eines Schuldvertrages dem Gläubiger
übergeben wird und bei Begleichung der Schuld zurückgegeben werden muss.