Nach 38 Jahren wieder zu Besuch
im Geburtsort Sattel (Kreis Grulich/Adlergebirge)
Ein Reisebericht von Walter Neugebauer
„Mariela
ei der Drehe“! Als wir am 19. September 2006 von Deschnei
(Destne) kommend Richtung Ortskern von Sattel (Sedlonov) am Haus (H.Nr.51) von „Kassa Dörner“
vorbeifuhren, wurden die Erinnerungen wieder wach. Im Juni 1968, also vor 38
Jahren, haben wir hier drei Nächte bei Anna Dörner geschlafen: der Schreiber
Walter Neugebauer (Foto), seine Frau Leonie und seine Mutter Antonie („Toni“)
Neugebauer (geb. Schmid) von der Weberei Neugebauer. |
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38 Jahre! Wo ist die Zeit
geblieben? Meine Mutter starb am 23. Juli 1995 in Kulmbach/Ofr.,
Anna Dörner schon 1976, acht Jahre nach unserem Besuch in Sattel. Doch plötzlich,
als wir an ihrem Haus vorbeifuhren, sah ich die hochbetagte, weißhaarige Frau
wieder auf der Bank vor ihrem Haus sitzen, ein holzgerahmtes Erinnerungsbild
an den ersten Weltkrieg in ihren Händen. Heute lebt ihre Nichte Marie („Mariela“) Hartmann (84) in dem Haus, das ihr die
volkstümliche Bezeichnung „Mariela ei der Drehe“
verdankt. |
Und ich erlebte
noch einmal im Zeitraffer-Tempo, wie herzlich meine Mutter damals (1968)
daheim gebliebene („Nicht-Vertriebene“) Sattler begrüßte und umarmte und von
ihnen ebenso begrüßt wurde. In Erinnerung geblieben sind mir besonders Franta Patek (Metzger) und Anna
Vogel („Vorstehersch Annla“),
die Schwester seiner schon früh verstorbenen Frau sowie Heinrich Linke, „dar
ale Poscher“, wie meine Mutter sagte. |
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Auch an die Mutter von Braatschneiders Maxl erinnerte
ich mich, die, wie Anna Dörner schon weißhaarig, mit blauem, weiß gepunktetem
Kleid und Kopftuch und hellblauer Schürze. Ich musste an die leuchtend roten
Geranien an ihren Fenstern denken, die in so gutem Kontrast standen zu den
dunklen Holzbalken der Hauswand mit ihren weißen Fugen. |
Heuer wollten auch mein Bruder
Dieter (55) und seine Frau Heidi (Kleinsendelbach, Kreis Forchheim/Ofr.)
endlich wissen, woher die Neugebauers stammen. Dieter wurde erst 1950 in
Thurnau (Kreis Kulmbach/Ofr.) geboren und kannte
bisher Sattel und Umgebung nur aus Erzählungen meiner Eltern und von Fotos.
Ein Besuch in Sattel hätte aber ohne jede Anlaufstelle, ohne jeden Bekannten
und Ansprechpartner, nicht allzu viel gebracht. Ich aber hatte leider keinen
Kontakt zu Sattlern. |
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Da half mir mein Cousin Erwin
Schindler (78, links) aus Helmbrechts-Kleinschwarzenbach/Ofr.,
der Sohn von Ernst Schindler („Hofe-Ernst“). Er war
erst im letzten Jahr mit seiner Cousine Sieglinde Herzig (Füssen/Allgäu) beim
70. Geburtstag ihres Cousins Hans Kuchar (rechts)
in Plaßnitz (Plasnice). Erwin Schindler stellte den
Kontakt zu beiden her, Sieglinde Herzig fuhr mit uns, kümmerte sich während
unseres Aufenthalts um Gretl, Hans Kuchars kranke Frau (geborene Seidel), und
so bekamen wir mit Hans einen ortskundigen Führer und Dolmetscher. |
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Hans Kuchar
hat uns in der Pension Hofman in Deschnei
einquartiert. Das erwies sich als idealer Stütz- und Treffpunkt: Mit dem
Ehepaar Hofman kann man sich über die notwendigsten
Dinge deutsch verständigen, Zimmer und Aufenthaltsraum sind modern und
geschmackvoll eingerichtet und sehr sauber. Das Frühstück ist normal, zum
Abendessen kann man sich etwas wünschen und so bekamen wir am ersten Abend
geräucherte Putenbrust mit Nudelsalat, am nächsten Schweinebraten mit „Zolkerklieslan“ und – obwohl kaum noch Pilze wuchsen - am
Tag darauf ein Pilz-Mischgericht mit Ei und Kartoffeln. Frau Hofman hatte am Morgen die Pilze eigens für uns gesucht.
Und das als Halbpension für 16 Euro!
Am ersten Abend haben wir uns
gemeinsam die Farb-Dias angeschaut, die ich 1968 gemacht und auf denen – soweit
ich mich nicht mehr erinnern konnte – ich vor unserer Fahrt nach Sattel
zusammen mit Erwin Schindler Personen und Häuser identifiziert hatte. Hans Kuchar rückte noch einiges zurecht und gab zusätzliche
Informationen. Natürlich kannte er die meisten Leute und freute sich, sie auf
den Fotos nach 38 Jahren wieder zu sehen.
Hans Kuchar erzählte von den
Schicksalen vieler Sattler Familien. Auch an meine Eltern Franz und Antonie
Neugebauer konnte er sich gut erinnern. Dabei erfuhr ich, dass seine Eltern
Johann und Emma Kuchar seit der Vertreibung 1946
Blech-Spielzeug aufbewahrt hatten, das mir 1943 ein Breslauer Feinmechaniker
bastelte: Das Kriegsschiff „Scharnhorst“ und einen Lieferwagen mit der
Aufschrift „Textil Neugebauer“. 1972 haben sie es meinen Eltern für mich
mitgegeben. Es war wie neu. Ich habe es heute noch. |
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Bei unserem Treffen im September
sagte Hans Kuchar: „Das Schiff und das Auto lagen in
einem Schrank auf dem Boden. Ich durfte damit nicht spielen, basta, einfach
weil es uns nicht gehörte“.
Die Zukunft sieht für Rentner wie
Hans Kuchar in Tschechien nicht rosig aus. Trotz
allem hat er seinen Humor nicht verloren („Ich bin a Lausigel“). Immer wieder
würzte er seine Erklärungen mit einem witzigen Spruch. Hier nur einige davon:
Die Sudentendeutschen sind alle
bei der Marine- die gehen nicht unter (??).
Als wir den Rinder haltenden
Staatsbetrieb in Sattel (heute angeblich eine GmbH) als volkseigenen Betrieb (VeB) bezeichneten, meinte er, das sei nicht richtig,
es müsse heißen „Vaters ehemaliger Betrieb“.
Oder, ich weiß nicht mehr, wie wir
darauf kamen, seine Verse zum Kaffee:
Wenn der Kaffe bellich
is, do sein die Weiber fruh,
do setza
se uff der Ufabank on mohla
emmerzu.
Kaffe, Kaffe, du edler Trank,
hätt ich dich ne, do wär ich krank.
Kaffe, Kaffee, du schlechter Mest,
wer dich derdocht,
dos war kä Chrest.
(Ich habe es so geschrieben, wie ich
es gehört habe)
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Sattel hat heute nur noch etwas
über 200 Einwohner. Der Ort wirkt während der Woche wie ausgestorben. Am
Wochenende, wenn die Tschechen in ihre Wochenendhäuser kommen, soll es
lebhafter zugehen. Aber am Mittwoch und Donnerstag sahen wir im Ort kaum
Leute. Eine Frau, die im Garten herumkrauterte; ein
alter Mann, der Holz hackte. Auf der Straße trafen wir zufällig Josef Klamta aus Polom. Er wohnt in
München, verbringt aber jedes Jahr mehrere Monate in Sattel im Hause seiner
Nichte, die noch in Ausbildung ist. Er hält es für sie in Ordnung. (HNr.112 –
beim Kerchvoter) |
Von ihrem stattlichen Haus
(oberhalb von Neugebauers Grundstück) winkte uns Marie Dörner (77), die Frau
von Anton Dörner, zu (geb. Zeipel aus Polom). Das Haus hat sie mit ihrem Sohn und mit viel
Eigenleistung der gesamten Verwandtschaft gebaut. 1978 sind sie eingezogen.
Ihr Schwager Franz Dörner (Neumünster, Schleswig-Holstein) ist heute der Ortsbetreuer von Sattel und Polom. |
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In Schindlers Ausgedingehaus (HNr.101) wohnte zu Kriegsende meine und
Erwin Schindlers Großmutter, Anna Schmid (geb. Scholz, Witwe von Franz
Schindler). Nach der Vertreibung aus ihren Häusern im Ortskern waren dort
auch meine Mutter Antonie Neugebauer mit ihren Kindern Walter, Werner, Renate
und Heidi sowie Tante Anna Vogel (die Gastwirtin) mit ihrer Tochter Annele untergebracht. |
Auf diesem Baugebiet „Am
Vogelherd“ hat Ernst Schindler („Hofe-Ernst“) vor dem
Krieg noch Hafer, Roggen und Kartoffeln angebaut. Auch darüber lagen noch
Felder von ihm, die bis hinter Schindlers Ausgedingehaus
(Altenteil) gingen. Heute erstrecken sich dort ausgedehnte Grünlandflächen, die
das Futter für die Rinderfarm liefern.
Von „Großmutters Häuschen“ sind
wir am „Fatzbärnla“ (ein Säuerlings-Brunnen) vorbei
zum Bauernhaus von Ernst Schindler gegangen. Hier zeigte uns Hans Kuchar den vermodernden Stumpf eines Kirschbaumes, an
dessen gelbe Herzkirschen er sich noch gut erinnerte. Von hier ging es zum
Bauernhaus von „Hofe-Honsla“. Nirgends war jemand im
Haus, wir schauten durch die Fenster in die Räume, bummelten über den kurz
geschnittenen Rasen zwischen den Häusern wie durch ein Museumsdorf.
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Im Gasthaus „Goldene Krone“ von
Tante Annla haben wir nach einer Wanderung über den
Lohberg Richtung Polom, zurück an den Bunkern
vorbei und durch das „Ochsagesenke“ ein Bier
getrunken, am Mittwoch, so gegen 17.00 Uhr. Wir waren die einzigen Gäste. Uns
fielen im Nebenzimmer die vielen alten Bilder von Sattel auf. Hans Kuchar dolmetschte mit dem Besitzer, einem großen, jungen
Mann mit dunklem Vollbart, und so erfuhren wir, dass er die Fotos von
Originalen hat reproduzieren lassen, die der Sohn von Franta
Patek gesammelt hat. Der jetzige Wirt hat das
Gasthaus von einem gewissen Grulich gekauft und
gibt sich offensichtlich Mühe, es wieder in Schuss zu bringen. |
Die Gaststube wirkte ziemlich kahl
und nüchtern, aber wesentlich sauberer als 1968, als es von einem aus Königgrätz „verbannten“ Journalisten und seiner Frau
bewirtschaftet wurde. Ich hatte die Gaststube seit meiner Kindheit in ganz
anders in Erinnerung: Ein Holzofen, warm, anheimelnd, noch die Stimme von Tante
Annla im Ohr, wie sie mir, dem fünf- bis
sechsjährigen Jungen, abends Kapitel für Kapitel von Robinson Crusoe,
Lederstrumpf und die Schatzinsel vorgelesen hat.
Oder ich stellte mir vor, wie
meine Mutter bis zu ihrer Heirat mit Franz Neugebauer (von gegenüber) dort in
der Küche geholfen und bedient hat.
Und wie waren die Eindrücke der
einzelnen Fahrtteilnehmer im September 2006? Sieglinde Herzig (65) war froh,
dass sie bei diesem Besuch der Frau ihres Cousins Hans Kuchar
einige Tage helfen konnte.
Meine Schwägerin Heidi (51) war am
meisten von der Größe und dem Erhaltungszustand des Hauses ihrer Schwiegerelter
Franz und Antonie Neugebauer beeindruckt, vom Gasthaus von Tante Anna Vogel
(„Goldene Krone“) und von Schindlers Ausgedingehaus.
„Das ist das schönste und gepflegteste Häuschen in Sattel“, schwärmte sie. Ich
kannte die Gebäude ja schon von 1968 und habe mich gefreut, dass sie in so
gutem Zustand waren.
Auch mein Bruder Dieter war davon
ganz angetan. „Meine Neugier ist befriedigt“, sagte er. „Es ist alles etwa so,
wie ich es aus Erzählungen kenne und erwartet habe.“ Am meisten faszinierten
ihn die alten Fotos von Sattel im Gasthaus „Goldene Krone“. Auf einem meinte er
neben einigen Metzgern Tante Annla als Kind entdeckt
zu haben, weil sie auf diesem Foto eine starke Ähnlichkeit mit ihrer Enkelin
Ulrike Schreyer (Tochter von Annele Schreyer,
Pfungstadt bei Darmstadt) hat.
Gefühle und eventuelle
Besitzansprüche beim Anblick des Hauses der Eltern? „Null!“, war die prompte
Reaktion meines Bruders. „Ich fände es schlimm, wenn ich da wohnen müsste. Ich
lebe lieber weiter in Franken.“ Im Hinblick auf die schlechte wirtschaftliche
Lage dieser Mittelgebirgsgegend an der polnischen Grenze und die fehlenden
Versorgungseinrichtungen sei Sattel für ihn „der Arsch der Welt“.
Da liegt er aus heutiger Sicht
vielleicht nicht ganz falsch. „Denn“, so erklärte Hans Kuchar,
„Sattel und Plaßnitz haben so viele Einwohner
verloren, dass sie als Gemeinden kaum noch lebensfähig sind und keine Zukunft
haben. In Tanndorf und Luisental wohnt kaum noch
jemand fest , es gibt dort fast nur noch
Wochenendhäuser der Tschechen und sonst nichts. Polom
als Gemeinde ist schon verloren.“
Vor allem gibt es in Sattel und in
den umliegenden Dörfern kaum Arbeitsplätze und keine Einkaufsmöglichkeiten. Die
jungen Leute ziehen in die größeren Städte oder gleich in den Westen. Auch die
Versorgung mit Dingen des täglichen Bedarfs ist dürftig. So fährt Hans Kuchar zum Einkaufen von Plaßnitz
ins 15 km entfernte Dobruska.
Dort bekommt er im neuen Supermarkt auf der grünen Wiese alles und billiger als
im einfachen Selbstbedienungsladen im benachbarten Deschnei.
Zum Beispiel kostet in Dobruska ein Liter Milch vier
bis fünf Kronen weniger.
Die tschechische Regierung setzt
in diesem Teil ihres Landes offensichtlich vor allem auf den Fremdenverkehr.
Baugrund wird billig angeboten, in der Gemeinde Deschnei
ist ein Quadratmeter angeblich für 20 Kronen zu haben. Wie man hört, sollen
Holländer hier bereits eine Chance wittern und einsteigen.
EU-Gelder zur Entwicklung des
ländlichen Raums und zur Verbesserung der Infrastruktur scheinen zu fließen. So
baut zum Beispiel der Besitzer des Ski-Lifts am Lohberg ein großes Haus
unterhalb des Gasthofs von Tante Annla Vogel (hinter
der Brücke links) um. Es war eingerüstet und Maurer werkelten darin. Das blaue
Schild mit dem Sternenkreis an der Wand zeigt, dass hier offenbar EU-Mittel
locker gemacht wurden.
Die Straßen sind in Ordnung, ein
wahrer Schilderwald leitet Wanderer und Radfahrer in alle Richtungen. Die Fahrt
auf dem Kamm des Adlergebirges mit einem Einkehrschwung in eine der Bauden wie
die Masyrik-Baude scheint bei den
Mountain-Bikern aus Tschechien und Polen sehr beliebt
zu sein. Ich möchte mir einen Teil der Strecke nächstens auch einmal vornehmen
- mit einem Abstecher nach Sattel.
Walter
Neugebauer
September 2006